"Es wird eine Aussicht geben, eine Leere, in der alles entstehen kann – und nichts. Die Polarsonne wird leuchten, und man wird die trockene, sauerstoffarme Luft der Arktis atmen, in der alles überdeutlich zu sehen ist."
Interview mit Arezu Weitholz - Reisejournalistin, Autorin und Illustratorin über ihr aktuelles Buch "Beinahe Alaska".
Liebe Arezu, dein aktuelles Buch "Beinahe Alaska" handelt von einer Fotografin, die auf einer Expeditionskreuzfahrt nach Alaska mit ihren Sehnsüchten und Ängsten konfrontiert wird. Du hast für deine Reisereportagen schon viel von der Welt gesehen. Warum handelt dieses Buch von Alaska und nicht von einem anderen Reiseziel?
Alaska ist letztlich das ultimative Ziel – für Entdecker, Goldsucher, Abenteurer ist es Verheißung, Versprechen, Sehnsuchtsort. Ich war 2017 im Rahmen einer Reportagereise zum ersten Mal weit oben im Norden, in Grönland und in Labrador und war so tief beeindruckt, dass mir die Worte fehlten – was nicht oft vorkommt. Heute weiß ich, dass es an der Ambivalenz der Arktis lag – diese einerseits menschenfeindliche Kargheit und Leere und gleichzeitig die unbeschreibliche Verwundbarkeit und Schönheit dieser Region. Ich wollte eine Geschichte aus der Perspektive einer Person schreiben, die ihren Platz in der Welt sucht und nicht so genau weiß, wo sie eigentlich hingehört.
„Der Himmel war kein Ausschnitt mehr, so wie zu Hause. Er überspannte auch nichts. Wir fuhren durch ihn hindurch. Er würde von nun an neben dem Meer die größte zusammenhängende Masse sein, die wir sehen würden – in einer Welt, die nur noch aus Horizont bestand.“
Warum hast du aus der Perspektive der Erzählerin geschrieben?
Als Fotografin ist sie wie eine erzählende Linse, durch die der Leser in die Arktis fährt. Sie fährt an den Rand der Welt (von uns aus gesehen), und erlebt in ihrem Inneren Widersprüche: Abenteuerlust und Heimweh, Wehmut und Hoffnung.
„Ich hatte das Gefühl, jetzt erst begann die Reise, jetzt geschahen Dinge, die nicht geplant waren, die nicht bedacht, besprochen oder geregelt worden waren.“
Was hat dich am meisten als Reisejournalistin auf deinen Reisen beeindruckt?
Die Freundlichkeit von Fremden. Ich erinnere mich zum Beispiel an einen Montrealer Busfahrer, der nach seinem Feierabend extra zu meinem Hotel zurückfuhr, um mir dabei zu helfen, ohne Rezept Asthmaspray zu besorgen, obwohl er am selben Abend ein wunderbares Essen für seine Freundin kochen wollte. Immer mal wieder trifft man wildfremde, grundlos freundliche Menschen. Das sind kleine Glücksduschen.
„Der Wind drückte uns in die Ecken, wollte uns von Bord pusten. Er schrie: Ihr wolltet doch ins Eis, jetzt bleibt mal schön hier. Er sang, heulte und jammerte wie eine alte Frau, die mal Opernsängerin gewesen war und nun ganz langsam richtig wütend wurde.“
Was ist für dich die beste Art des Reisens?
Ich liebe Zugfahren, aber ich mag auch das Alleinsein, daher bin ich uneins: entweder ein Zugabteil mit schweigenden Mitreisenden oder mit dem Auto, einem tollen Soundtrack, ohne Straßenkarte einfach drauflos.
An welchem Ort spürst du Freiheit?
Am Meer.
„Das Meer zeigte einem, wie flüchtig alles war, im Meer blieb nichts gleich. Am Meer konnte man sich nicht festhalten. Man konnte es nicht aufbewahren. Nicht malen, nicht fotografieren, genauso wenig, wie man einen Wal in Gänze fotografieren oder einen Wimpernschlag berühren konnte. Auf dem Meer war jede Richtung vorn.“
Welche Beziehung hast du zum Meer?
Seit meiner Geburt verbringe ich meine Sommer am Meer. Am Meer habe ich Ideen, finde Trost, erhole mich. Es macht mich froh. Man kann dem Meer allerhand anvertrauen. In den Neunzigern hatte ich einen Badeunfall. Seitdem habe ich gewaltigen Respekt vor dem Meer. Ich machte einen Tauchschein, um die Angst vor Wellen zu überwinden. Ich habe große Achtung vor Seeleuten und Fischern, lese gern Romane von Schriftstellern, die das Meer lieben, und ich wohne gern in Städten, die einen Hafen haben. Vielleicht bin ich ein Fisch und weiß es nur nicht.
Wie kann man Nähe in der Ferne erleben?
Mit Menschen. Keine Angst haben. Nach dem Weg fragen. Geschichten erzählen. Geschichten anhören. Den Trampelpfad verlassen. Abwarten. Aushalten. Hilfe anbieten. Den Zug verpassen. Sowas.
Womit fühlst du dich auf Reisen verbunden?
Mit der Hoffnung. Wenn man schon aufgebrochen ist, aber noch nicht da, kann alles passieren. Das ist der Zustand größtmöglichen Glücks.
Gab es auf deinen Reisen Orte, an denen du Heimweh hattest? Und gibt es Zuhause, Momente des Fernwehs?
Ich habe eigentlich dauernd Heimweh oder Fernweh, es kommt immer darauf an, wie es mir geht. Bin ich trübe, habe ich Heimweh. Bin ich fröhlich, habe ich Fernweh.
„Unmerklich langsam fuhren wir immer tiefer in diese Postkarte hinein, und ich verstand endlich, warum Menschen Schiffsreisen so liebten. Mit keinem anderen Verkehrsmittel konnte man einer Sache so langsam näher kommen.“
An welchen Orten hältst du dich gerne auf?
Ich schätze mein Sofa, die Lübecker Bucht und den Sacrower See. Ich sitze gern in den Lesesälen der British Library, fahre gern durch Schottland. Ich mag Porto, Portugal, die Leute da, das Essen, alles. Lärm kann ich nur haben, wenn er gute Musik ist.
Was wolltest du früher einmal werden?
Elektriker.
Hat dein Name eine Bedeutung?
Wunsch, Sehnsucht, Hoffnung.
Warum schreibst du?
Um mir die Welt zu erklären.
Wie bist du dazu gekommen, für Musiker wie Herbert Grönemeyer, Adel Tawil, Udo Lindenberg oder die Toten Hosen Songtexte zu schreiben?
Ich wohnte Anfang 2000 in London und traf öfter Herbert Grönemeyer zum Kaffeetrinken. Ich kannte ihn von meiner Arbeit als Musikjournalistin. Er tat mir damals einen Riesengefallen, weil er meine ersten Prosatexte las und mir sagte, was er davon hielt. Als er dann für sein neues Album Liedtexte schrieb, fragte er mich, ob ich mal seine Texte ansehen könnte. So entstand die Zusammenarbeit. Weil das daraus resultierende Album „Mensch“ so erfolgreich war, fragten mich auch andere Künstler.
Du warst DJ in Südafrika, wie alt warst du und welche Art von Musik hast du in den Clubs aufgelegt?
Ich war 27 und legte DrumnBass auf, auch Hiphop, Reggae und elektronische Musik/Ambient. Ich konnte nicht gut beatmixen, deswegen haben sie mich immer als Erstes und als Letztes spielen lassen, also zum Sonnenuntergang und zum Sonnenaufgang.
Warum sind Fische, über die du Gedichte schreibst und die du illustrierst, ein beliebtes Thema für dich?
Wenn man sich mit Fischen befasst, merkt man, wie groß und auch poetisch die Unterwasserwelt ist. Mein erstes Fischgedicht war ein Zufallsfang. Ich saß mit meiner Mutter in einem Strandkorb, wollte sie aufheitern und habe aus dem Stehgreif ein Fischgedicht gedichtet. Sie lachte, und ich dichtete gleich eins hinterher. Inzwischen – nach vier Bänden mit Fischgedichten – ist es aber auch gut.
Du hast iranische Wurzeln und wurdest von einer deutschen Familie adoptiert – wie alt warst du, als du adoptiert wurdest?
Ich bin im Alter von drei Monaten adoptiert worden.
Was hat deine Familie dir mit auf den Weg gegeben?
Alles. Das Wichtigste: Dass ich geliebt werde.
Wirst du im Laufe deines Lebens und mit dem Älterwerden, mit Ängsten konfrontiert wie Flugangst, Kontrollverlust, Alleinsein?
Das eigene Älterwerden schreckt mich nicht so, wie etwa die Krankheit anderer. Ich glaube, es gibt nichts Traurigeres, als einen geliebten Menschen leiden sehen zu müssen. Bei Ängsten habe ich jeher eine einfache Herangehensweise – absolute Ignoranz. Ich tue einfach so, als wäre ich mutig.
Was sind deine nächsten Projekte?
Ich zeichne gerade Igel zum Thema „Einigeln“ und schreibe an zwei Geschichten. Eine spielt in einem Kaufhaus, eine andere in einem Hotel am Meer.
10/2020