Der Zuhör-Kiosk
Wie ein kleiner Kiosk an der U-Bahn Station Emilienstraße in Hamburg zum Mittelpunkt für ganz persönliche Gespräche wurde.
„Es hört einem ja heute keiner mehr zu“…
Diesen Satz bekommt Christoph Busch, Autor und Initiator des Zuhör-Kiosk an der U-Bahn-Station Emilienstraße in Hamburg, immer wieder zu hören. Von Menschen, die sich ihm anvertrauen, ihm ihr Herz ausschütten oder einfach nur zwischen zwei Haltestellen plaudern möchten. Juli 2020
Lieber Herr Busch, wie kam das Projekt „Zuhör-Kiosk“ zustande?
Ich bin an dieser U-Bahn-Station Emilienstraße ausgestiegen und sah ein Schild am Kiosk „zu vermieten“. Ich rief beim Vermieter an, der sagte mir – er ist schon weg. Irgendwie war ich erleichtert, da ich keine konkrete Vorstellung hatte, was ich hier machen wollte, außer hier sitzen und schreiben. Ein Jahr später, gleiche Situation – Schild wieder dran „zu vermieten“. Ich rufe wieder an – er ist noch zu haben. Von da an habe ich das Projekt vorangetrieben, auch gegenüber der Hochbahn, die nicht wusste, was sie davon halten soll, dass sich da einer hinsetzen will zum Schreiben. Auf der anderen Seite, meine Angst – es war Winter, im November, und ich wusste nicht, wie sich das anfühlen wird, da unten. (Unterirdischer Bahnhof ) Mindestmietdauer sechs Monate. Ich habe mich dann doch dafür entschieden und bin sehr froh darüber. Beim Renovieren im Dezember 2017 habe ich Schilder angehängt, dass ich gerne zuhöre – das ist ja für einen Autor ganz gut, wenn er Geschichten hört. Ich habe es vorsichtig formuliert, weil ich die Leute nicht mit Geschichten belasten wollte. Ein Satz, Glück oder Unglück … irgendwo hängt das Schild hier noch. Dann habe ich mich Januar 2018 mit dem Laptop hier in den Kiosk gesetzt und dann ging es los, ich ahnte schon, was kommen wird - die Leute waren ganz begeistert. Der Standardsatz war – „es hört einem ja heute keiner mehr zu“… wir machen eine kleine Pause – da kommt die Bahn …
Erinnern Sie sich noch an das erste Gespräch?
Die ersten Gespräche gingen schon hier am Schalter los, als ich renoviert habe. „Was haben Sie vor? Sie wollen zuhören?“ Ja auch, aber vor allen Dingen schreiben. „Sind Sie beratend tätig, Pastor oder Therapeut oder so?“ Ne, bin ich nicht, ich bin Autor. Neugierige Fragen und Begeisterung, dass da endlich jemand zuhört.
Gibt es Menschen, die öfter kommen?
Ja. Erst ist man sich fremd, da es oft eine sehr persönliche Situation ist, auf die sich die Gäste einlassen, weil sie ja nicht wiederkommen müssen. Aber wenn es ein gutes Gespräch war und sie haben zu demjenigen – wir sind ja inzwischen eine Gruppe – ein gutes Verhältnis gehabt, dann kommen sie auch wieder. Manchmal wird daraus auch eine lose Freundschaft, aber immer unter der Prämisse, dass man sich doch in einer besonderen Situation kennengelernt hat. Die Leute leisten den entscheidenden Anteil. Wenn ich hier auf dem Bahnsteig langgehe und mir den Kiosk von außen angucke, dann weiß ich ja nicht, wie sich das hier drin anfühlt, wie das ist, wenn ich da in der Ecke sitze, zwischen den Leuten, aber gleichzeitig raus aus dem Alltag. Was passiert da mit mir? Die Leute, die sich entschließen, das mal auszuprobieren, sind mutige Leute. Insofern gibt es schon manchmal eine Beziehung.
Sind die Menschen nach einem Gespräch dankbar?
Ja klar. Das äußert sich manchmal mit Tränen oder mit viel Lob. Oder einfach auch dadurch, dass die Leute hier vorbeigehen und gucken. Nach anderthalb Jahren weiß natürlich jeder, was hier los ist und es scheint für viele ein erfreulicher Anblick zu sein. Normalerweise ist das nur ein Durchgangsort. Meistens lesen die Leute davon, nehmen sich einen Handzettel und kommen dann wieder. Und das ist auch gut so.
Wie lange dauert ein Gespräch?
Kommt darauf an. Wenn es ein gutes, intensives Gespräch ist, sind anderthalb Stunden schnell um. Unter eine Stunde ist selten.
Das Ohr beherbergt zwei wichtige Sinnesorgane des Menschen: das Hörorgan und das Gleichgewichtsorgan.
Was gibt Ihnen persönlich das Zuhören?
Mir begegnen hier ganz viele Gefühle. Empathie heißt ja auch, dass man sich nicht nur die Gefühle anguckt, sondern sie auch an sich heranlässt. Hier weiß man nicht, wer kommt und es ist immer wieder eine Überraschung. Ich werde plötzlich mit Gefühlen konfrontiert und habe kein Konzept, sondern ich reagiere einfach, als wenn mir ein guter Freund etwas erzählen würde. Erst einmal zuhören und sagen was ich davon halte, wie ich das sehe. Das ist kein intellektueller Prozess. Gefühle, die man vorher nicht kannte, werden ausgelöst oder hat man die vielleicht nur vorher nicht bemerkt? Wir sind ja sehr oberflächlich geworden was Gefühle angeht, weil sie dauernd abgesogen werden für Werbung oder Politik oder sonst wie. Unsere Gefühle gehören uns nicht wirklich selbst. Jedenfalls gehen wir nicht so damit um, als wären wir stolz darauf und würden sie schätzen. Das habe ich gelernt und bei mir selber dann genau hingeschaut und mich gefragt, wo die Gefühle genau herkommen. Da könnte ich stundenlang drüber erzählen…
Wie verarbeiten Sie die einzelnen Geschichten? Nehmen Sie die mit nach Hause oder schließen Sie den Kiosk ab und sagen das war’s?
Ich nehme sie natürlich mit, ob nach Hause oder sonst wohin. Die gehören dann mir. Die sind dann in meinem Leben. Eigentlich steckt in der Frage die Sorge, dass man überlastest sein könnte. Aber es gibt nicht nur traurige Geschichten. Wenn hier jemand reinkommt, auch wenn er ganz unglücklich ist, dann will der oder die nicht noch unglücklicher werden, darum kommen die hier nicht rein. Sondern sie denken – ach gucken wir mal, vielleicht ist es ja gut für mich. Insofern habe ich, auch wenn die Geschichten traurig sind, es mit ganz tapferen, mutigen Menschen zu tun, die ich zum Teil bewundere.
Ich freue mich über jede Geschichte.
Die Bahn fährt ein …
Kaum hatte ich angefangen und es war in den Medien, kamen die ersten Verlage und fragten, ob ich ein Buch schreiben kann. Ich habe dann zugesagt und einen tollen Vertrag unterschrieben. Ich habe ganz viele Gespräche aufnehmen dürfen. Habe dann aber gemerkt, dass das nicht mein Anliegen ist, so wie jemand, der die Wüste mit einem Motorrad durchquert hat und anschließend ein Buch darüber macht. Sondern der Prozess selbst fasziniert mich. Ich will nicht irgendwann aufhören und ein Buch darüber schreiben, sondern will, dass der Kiosk weiter existiert, darum auch die Gruppe. Ich habe angefangen zu schreiben, aber gemerkt, dass ich noch gar nicht genau verstanden habe, was mit mir hier passiert. Also habe ich wieder aufgehört zu schreiben.
Immer wieder geht es darum: Was ist mit unseren Gefühlen? Wie können wir das hinkriegen, dass das wieder unsere sind? Die Macht der Gefühle. Unsere Gefühle werden eigentlich permanent missbraucht. Wir sind umgeben von Werbung. Wenn ich hier durch die Straßen fahre, dann leuchten die Schilder und springen mich Nachts an und ich parshippe jetzt oder sonst etwas wird mir da versprochen. Werbung ist auf dem Handy, auf dem Computer. Die meisten Menschen, mich eingeschlossen, passen sich an, auch was die Selbstdarstellung angeht, die ganzen Selfies, geschminkten Mädels, nicht nur Mädels, auch die Männer, die immer gut drauf sind. Es ist der Versuch das Glück darzustellen, wie es einem vorgegeben ist. Früher wenn man ein Foto von einer Gruppe gemacht hat, dann haben die da gestanden und gelächelt, das passiert vielleicht noch bei seriösen Firmenfotos, aber ansonsten, wenn es darum geht, Glück, gute Laune und Zusammenhalt darzustellen, dann wird geschrien, mit den Augen gerollt, gejubelt, die Zunge herausgestreckt, weil die Leute alle nicht mehr glauben, dass es echt ist, was sie da empfinden. Und dazu trägt Werbung bei.
Kommen auch junge Leute zu Ihnen?
Ja, Abiturienten, die sich überlegen, wie ihr Leben aussehen soll. Oder einmal zwei junge schwule Türken, die haben es dann auch nicht so leicht.
Gibt es bestimmte Themen, die immer wiederkehren bei den Gesprächen?
Die Kindheit. Alles Unglück, was Erwachsene haben, kommt aus der Kindheit. Da bin ich mir inzwischen ganz sicher. Irgendwann hat der Erste von seiner Kindheit erzählt, dann die Zweite und dann habe ich angefangen, danach zu fragen und tatsächlich ist es so, dass alles, was Beziehung angeht – den eigenen Gefühlen zu trauen oder den Eltern gefallen zu wollen und so weiter – kommt aus der Kindheit. Wenn man Pech hat, kommt man nie von den Eltern los, weil man sich nicht traut, irgendwann zu sagen – das war eine Schweinerei, wie die mit mir umgegangen sind oder ich habe nichts falsch gemacht, die haben mich schlecht behandelt.
An welchen anderen Orten gibt es diese Art von Zuhörkioske noch?
In Paris, die Assoziation „Porte Ouverte“, 1977 gegründet. Da war ich auch und habe es mir angeguckt. Die gibt es dort schon lange an ganz verschiedenen Orten, auch an Brennpunkten. Das ist aus einem sozialen Aspekt heraus entstanden. Eben nicht so offen wie hier. Was diesen Kiosk hier auszeichnet, ist, dass er nicht kirchlich oder thematisch gebunden ist, er ist von der Lage her völlig offen – im letzten Moment kannst du noch in den Zug steigen, du musst kein Gebäude betreten. Es gibt viele Menschen, die zuhören, wie die Telefonseelsorge. In den Kirchen gibt es auch Teestuben, in denen zugehört wird. Nur deren Arbeit, die mindestens so gut ist wie das, was wir hier machen, die fällt nicht so auf.
Inzwischen ist das Team auf 15 Leute gewachsen. Wie kam das zustande? Wie haben die Menschen Sie gefunden?
Nach einem halben Jahr, im Sommer 2018, war ich ein bisschen erschöpft und hatte oft das Gefühl, einen kleinen Umzug hinter mir zu haben, als ich nach Hause kam. Ich wollte den Kiosk aber auch nicht wieder dicht machen. Weil es eben schon eine Einrichtung war und mir auch Spaß gemacht hat. Dann habe ich mich im Bekanntenkreis umgehört und nach und nach sind immer mehr Leute gekommen. Jetzt sind wir fünfzehn und inzwischen ein gemeinnütziger Verein, wegen der Spenden.
Die kommen in den Kiosk und führen hier die Gespräche?
Ja, aber wegen Corona trauen sich nicht alle hierher zu kommen, ich war auch erst schockiert und habe gedacht, das ist ja viel zu klein hier drin. Aber jetzt, wo die Entwicklung ist, wie sie ist, und man sich selber an die Regeln gewöhnt hat, da lässt diese Angst, die so unpräzise ist, und alles erschlägt, nach. Das erste Mal, als ich wieder hier gesessen habe, kamen viele Stammfahrgäste vorbei und haben gesagt – ah ihr seid wieder da, das ist ja schön.
Also es gab eine Zeit, da hatten Sie geschlossen?
Ja und dann kam die Online-Idee mit dem Video-Chat whereby, aber wir sind nicht so die Typen die gerne online sind. Und der Zuspruch ist nicht groß, weil es wirklich etwas total anderes ist und wir so runtergezogen worden sind in ein Krisenbewältigungsmodell. Alles wird jetzt mit Zuhören gemacht. Ganz viele Leute schreiben jetzt etwas über das Zuhören.
Würden die Gespräche Ihnen fehlen, wenn niemand mehr kommen würde?
Zwischendurch habe ich mal gedacht, jetzt kannste hier ja mal wieder schreiben. Aber ich kann mich hier nicht so gut konzentrieren. Früher habe ich gerne in Cafés geschrieben, aber das ist etwas anderes, da hat man mit den Leuten nicht so viel zu tun. Hier könnte ja ständig jemand kommen und was sagen. Hier reagieren Leute auch auf einen. Im Café lächelt dich niemand an, wenn du gerade einmal von deinen Tasten hochguckst.
Was müsste sich in der Gesellschaft ändern, damit die Menschen wieder mehr miteinander ins Gespräch kommen?
Das Geld dürfte nicht mehr entscheiden. Viel mehr kann man dazu nicht sagen. Wie oft bin ich gefragt worden – Herr Busch, Sie sind doch gut gegen Einsamkeit. Ich habe gesagt: Einsamkeit ist ja keine Krankheit. Einsamkeit ist ein gesellschaftliches Phänomen. Ich habe viele Leute erlebt, auch gerade ältere Leute, die unheimlich gut in der Lage sind, dafür zu sorgen, dass sie nicht einsam sind. Das kann eigentlich jeder. Aber wenn ich meinen eigenen Gefühlen nicht traue, traue ich denen von anderen sowieso nicht. Ein ganz wichtiges Gefühl ist die Angst. Angst ist gut, damit komme ich heil über die Straße, dann ist es eine Vorsichtsmaßnahme. Aber es gibt noch diese wabernde Angst, die überall ist, mit der man zum Beispiel unheimlich gut Zeitungen oder andere Medien verkaufen kann.
Hinter Ihnen hängt ein Foto, auf dem ist ein Stapel alter Mopos (Hamburger Morgenpost) zu sehen und fett obendrauf steht "Angst". Das Foto ist vielleicht 25 Jahre alt. Wenn ich Angst irgendwo drauf schreibe, dann kann ich sicher sein, dass es gekauft wird. Die Leute sehen in der Angst eine Begründung, nicht mehr miteinander ins Gespräch zu kommen. Die meisten Leute trauen sich einfach nicht. Zum Zuhören gehört auch, dass man sich das wünscht und einfordert.
Haben Sie Pläne für die Zukunft?
Mein Leben aufräumen. Dieses Jahr werde ich 74. Da ich mich ganz gut gehalten habe, auch weil ich ein bisschen aufpasse, rechne ich damit, drei- vier- oder fünfundachtzig Jahre alt zu werden. Das ist mein Minimum. Da kann immer etwas dazwischenkommen. Wenn es jetzt noch zehn Jahre sind, sind die schnell rum. Ich habe die Schränke voll mit allem möglichen Kram und ich möchte meine Familie damit nicht belasten, die dann die Sachen durchgehen oder auch nur schlicht entsorgen müssen. Aber eigentlich habe ich so viele akute Projekte, dass dieses Sich-den-Überblick-Verschaffen und Dinge-geordnet- Hinterlassen, mir nicht gelingen wird, da bin ich mir ziemlich sicher. Es gibt immer neue Reize. Also – Ordnung schaffen und tausend neue Sachen anfangen, die mich davon abhalten.
07/2020