Interview mit Jule Schwarz, Thaiboxerin, Musikerin und Naturliebhaberin.

Das erste Mal war Jule mir aufgefallen, als ich im Sommer ein Wochenende auf einem Camping Platz an der Ostsee verbrachte. Sie fuhr mit ihrem schwarzen Bulli an mir vorbei, Fenster runtergekurbelt, lässiger Blick, Musik im Hintergrund, Hund auf dem Beifahrersitz. Ihre Frisur - Glatze. Sie parkte und stieg aus, barfuß. Obenrum muscle shirt, das ihren durchtrainierten und tätowierten Oberkörper betonte und untenrum eine schwarze lockere Dreiviertel-Hose. Die Schriftzüge an der Seite ihres Bullis hatten irgendetwas mit Kampfsport zu tun. Am nächsten Morgen sah ich sie wieder, sie saß am Strand mit ihrem Hund und einer Tasse Kaffee in der Hand und blickte auf das Meer.

 

Ein paar Wochen später besuche ich Jule auf dem Campingplatz. Zwischen Landluft und Meeresrauschen höre ich ihr fasziniert zu, wie sie mir aus ihrem Leben erzählt.

Liebe Jule, wann hast du mit Thaiboxen angefangen und warum?

Ich fange mal chronologisch an. Ich habe eine 22-jährige Tochter und ihre Geburt war ein einschneidendes Erlebnis für mich. Und nach der Geburt gefiel mir mein Körper nicht. Bis dahin hatte ich noch kein Sport gemacht. Mein damaliger Mann begann mit dem Kickboxen, das war aber nicht so meins, also suchte ich mir eine andere Sportart. Ich bin dann zum Laufen gekommen, Langstrecke und Marathon. Auch in Wettkampfform, sehr leistungsorientiert. Das habe ich zehn Jahre lang gemacht. Und ein bisschen Workout. Nach einer Trennung meines damaligen Partners, habe ich ein Probetraining in dem Verein gemacht, in dem ich heute noch als Trainerin tätig bin: das Fit & Fight in Kiel. Das ist jetzt zehn Jahre her. Ich bin gleich vollgasmäßig eingestiegen. Ich war relativ alt, was den Sport angeht. Jetzt bin ich 44. Letztes Jahr im Oktober/November, war ich in Thailand und habe mir meinen Herzenswunsch erfüllt, dort zu kämpfen. 

Foto privat
Foto privat

Warst du das erste Mal in Thailand?

Es war das dritte Mal. Ich war schon einmal mit meinem Verein zusammen dort, in Khao Lak, nördlich von Phuket. Davor bin ich mit meinem damaligen Freund herumgereist. Alles was südlich von Bangkok war, haben wir mit dem Moped bereist. Das war schön. Da habe ich auch ein bisschen trainiert, aber das war nicht die Hauptsache. Beim zweiten Mal dort, konnte ich mich einfach in das Gym begeben und trainieren.

 

Gut, dass du die Reise letztes Jahr noch gemacht hast!

Allerdings. Es ist krass, wie es zum Teil an Wert gewinnt, wenn man es im Nachhinein betrachtet. Dieses Jahr habe ich die Reise gleich gecancelt, aber ich würde es gerne etablieren, um im Winter rauszukommen. Man muss einen Weg finden, um abzuschalten. Ich habe schon immer gerne aktiv Urlaub gemacht, mit Laufgruppen, um sich auf die Saison vorzubereiten.

 

Und in den Gyms in Thailand hast du auch aktiv bei Kämpfen mitgemacht?

Genau. Ich hatte mich hier schon vorbereitet, bin fit hingeflogen und habe mich vor Ort nochmal vier Wochen gut vorbereitet, acht Stunden am Tag trainiert und am Ende des Urlaubs stand dann dieser eine Kampf an gegen eine 16-Jährige Thailänderin. Das war abgefahren. 

 

Jule Schwarz beim Training  © privat
Jule Schwarz beim Training © privat

Was empfindest du, wenn die Gegnerin vor dir steht?

Ich hatte tatsächlich extrem Bock. Ich bin sonst eher ein ängstlicher Typ, aber ich gehe dagegen an. Mir ist noch nie etwas Schlimmes passiert. Es gibt immer wieder Situationen, in denen etwas passieren könnte. Auch bei der Arbeit – ich arbeite viel mit schweren Maschinen – habe ich immer das Worst-Case-Szenario im Kopf. Es nervt mich manchmal schon, aber ich passe deswegen auch einfach sehr auf. Auf jeden Fall hatte ich keine Angst. Ich habe mich ewig auf diesen einen Kampf vorbereitet. Dann kämpft man bei 35 Grad, mit extrem hoher Luftfeuchtigkeit, 5 mal 2 Minuten. Es war schön, zu merken, dass ich vor dem Kampf nicht ängstlich war. Ich habe meditiert und war gut vorbereitet und wollte genau das abliefern, was ich seit zehn Jahren trainiere. Dann kam der Respekt dazu, als ich sie sah. Beim Sparring (Trainingskampf) oder beim Kampf hat man eher einen indirekten Blick, um schneller wahrzunehmen, so nenne ich das. Ich sah nur ihre Beine und dachte, ach du Scheiße, die kann auf jeden Fall kicken! Das können die Thais auch wirklich. Im Training tragen wir Schienbeinschoner, wenn wir mit Vollkontakt arbeiten. Aber beim Kampf mit nackten Beinen dazustehen, ist dann doch eine andere Nummer. Sie hat mir in der ersten Runde auch gleich so weh getan, das hatte Folgen für den Rest des Kampfes. Aber es war toll und ich war sehr zufrieden mit mir. Im Thaiboxen darfst du die Ellbogen gebrauchen, bist im Clinch, auch Kniestöße und Würfe sind erlaubt. Im Prinzip ist alles möglich. Aber hier in Deutschland würdest du das nicht erleben, dass eine 44-Jährige mit einer 16-Jährigen in den Ring steigt. Die 16-Jährige hatte fünfzehn Kämpfe hinter sich und ich einen Boxkampf (lacht). Man kann dort mittlerweile auch viele Frauenkämpfe sehen. Weniger als bei den Männern, aber immerhin. Nach wie vor dürfen die Frauen den Boxring nur betreten, wenn sie unter den Ringseilen durchklettern. Die Männer springen oder klettern einfach über die vier Ringseile.

 

Jule Schwarz in Kampfposition © privat
Jule Schwarz in Kampfposition © privat

Und was hast du gemacht?

Blöderweise hatte mein Trainer mich schon vorher darauf aufmerksam gemacht und ich bin zähneknirschend unten durch gegangen. Bei einer Freundin von mir hätte der Kampf fast nicht stattgefunden, weil sie in der Mitte durchgegangen ist.

 

Was genau interessiert dich an einem Kampf?

Das hat so eine Ambivalenz, die ich im restlichen Leben auch oft wiederfinde. Es ist widersprüchlich. Das hat nichts mit einem emotionalen Hass auf dein Gegenüber zu tun, sondern mit Respekt. Spätestens nach dem Kampf liegt man sich in den Armen. Wirklich. Es klingt absurd, manchmal denke ich, so sollten Kriege ausgetragen werden. Eins zu eins – ab in den Ring (lacht). Du willst, dass dein Gegenüber k.o. geht und willst ordentlich austeilen, dass sie so stark verletzt wird, dass der Kampf abgebrochen wird, willst selber aber nichts einstecken. Das ist die offensichtlichste Ambivalenz, die sich mir so zeigt.

 

Und das reizt dich daran?

Total. Und die Grenzerfahrung. Das Adrenalin. Man hat ein extrem selektives Gehör. Bei einem Kampf hier in Deutschland habe ich nur die Stimme meiner Betreuerin in der Ringecke gehört und den Trainer meiner Gegnerin. Sonst nichts. Die Zuschauer und Freunde, die einen anfeuern, hört man nicht. Auch wie man den Schmerz wahrnimmt wenn man mit all seiner Kraft auf den Punkt genau einschlägt, fühlt sich anders an. Es ist nicht so, wie man sich das vorstellt, wie zum Beispiel in einen schweren Sandsack zu schlagen. Es ist rasant. 

 

Jule Schwarz vor ihrem Bulli © Tonia Christie
Jule Schwarz vor ihrem Bulli © Tonia Christie

Wie bereitest du dich mental auf einen Kampf vor?

Ein halbes Jahr bevor ich nach Thailand geflogen bin, habe ich angefangen zu meditieren und das hat mir geholfen.

 

Wie hältst du dich fit?

Ich gehe Laufen, mache sehr viele Workouts und Kampfsport. Ich trainiere zwei, drei Stunden jeden Tag. Wenn ich Training gebe, mache ich alles eins zu eins mit. Und zwischendurch Krafttraining. So habe ich auch etwas davon. Meine Form habe ich vor allem daher. Als Trainerin bin ich weniger selbstmitleidig. Ich ziehe durch! (lacht)

 

Trainierst du nur Frauen im Fit & Fight?

Ne, ich gebe auch gemischte Trainings. Aber ich habe eine ganz starke Frauengruppe. Seit sechs, sieben Jahren gebe ich Trainings. Das ist auch das, was Fit & Fight auszeichnet, dass an zwei Tagen reines Frauen Thaiboxen stattfindet, parallel zum gemischten Training. Und das ist eine Herzenssache von mir. Etwas ganz Besonderes. Ich gebe auch Selbstverteidigungs- kurse. 

 

Ist Thaiboxen Selbstverteidigung?

Nein. In der Selbstverteidigung greife ich zurück auf unterschiedliche Techniken. Hebeltechniken aus dem Kungfu, Ellbogen und Kniestöße aus dem Thaiboxen. Und die eigene Körperlichkeit erfahren, gehört da ganz klar mit rein. 

 

Du hast auch noch eine andere Leidenschaft – du spielst Geige seit deinem sechsten Lebensjahr, war das dein Wunsch oder der deiner Eltern?

Ich komme aus einer Musikerfamilie. Mein Vater war Berufsmusiker und meine Mutter ist auch Musikerin. Bei uns war nicht die Frage – möchtest du ein Instrument spielen, sondern welches Instrument möchtest du spielen? Wenn wir zu Hause Besuch hatten, wurde gemeinsam musiziert. Ich habe klassische Geige gelernt und die ganze Schulzeit über, bis zur elften Klasse, stand es nie im Raum, dass ich aufhöre, zumal ich meinen Geigenlehrer auch geliebt und zu ihm aufgeblickt habe. Das hätte ich nicht über’s Herz gebracht. Allerdings habe ich die Schule mit siebzehn abgebrochen. Ich war auf dem Gymnasium und sollte eigentlich Abi machen, aber ich fand es dort zu elitär und langweilig. Meine Mutter war schlau genug zu sagen, dann machst du eine Ausbildung. Und dann kam tatsächlich so ein Kindheitswunsch wieder hoch – Biobäuerin hieß es früher – und ich habe mich dann nach Ausbildungsbetrieben in der ökologischen Landwirtschaft umgeguckt und meine Ausbildung zur Landwirtin gemacht. In der Zeit hatte ich meine Geige bei mir und wohnte in einem Bauwagen, habe aber nicht gespielt. Mit der Geige ist es auch tricky – ich setze mich nicht einfach alleine hin oder ans Feuer, wie mit einer Gitarre und spiele vor mich hin.

 

Du spielst Geige in fünf Bands – 

Di ChuzpenicsNeigungsgruppe Ausdruckstanz, Ford Broncos, Priest`n`Prayers und seit Kurzem auch bei der Safar Band. Seit wann spielst du in Bands?

Bei Di Chuzpenics spiele ich jetzt am längsten, seit siebzehn Jahren. Mit denen habe ich wieder begonnen Geige zu spielen. Irgendwann kam der Wunsch wieder auf, Musik zu machen und durch einen glücklichen Zufall, mein damaliger Freund war mit dem Bassisten der Band befreundet, suchten die seit einem Jahr eine Geige. Es passte dann auch zwischenmenschlich, perfekt. 

Entwickelst du auch die Musik dazu?

Es ist unterschiedlich, wie ich in den einzelnen Bands spiele. Bei den Di Chuzpenics ist es eher streng , es sind viele eigene Stücke, aber auch traditionelle Klezmer Stücke, die wir spielen und arrangieren. Mit Oboe, Akkordeon, Sänger und Geige. Das ist alles sehr durcharrangiert. Bei Neigungsgruppe Ausdruckstanz ist das Konzept: Wir finden gute Musiker, proben nicht, sind sehr frei, jammen ganz viel. Wir sind alle gut genug, dass es gut funktioniert. Bei den Ford Broncos sind es selbstgeschriebene Stücke unseres Sängers, der auch der Sänger bei Neigungsgruppe Ausdruckstanz ist. Diese Lieder sind auch arrangiert, aber natürlich bieten wir immer Platz für freie Sachen.

 

Singst du auch selber?

Ja, bei Di Chuzpenics gibt es drei, vier A-Cappella-Stücke, da singen wir dann gleichberechtigt oder die Backings. Und bei der Neigungsgruppe auch viel Backings.

 

Was ist deine Lieblingsmusik?

Ich bezeichne mich als größten Tom-Waits-Fan. Das ist für mich die höchste Kunst des Musikmachens. Er begleitet mich mein Leben lang. 

 

Wie bist du durch die Corona-Zeit gekommen?

Wir sind natürlich gar nicht aufgetreten. Es kommen erst jetzt ein paar Corona-Auftritte. Mit Di Chuzpenics haben wir uns bei dem Schleswig-Holstein-Kulturfestival beworben und ein Konzert gegeben und vor Kurzem gab es im Rahmen des Aktionstages „Grenzenlose Solidarität“ einen Auftritt in Zusammenhang mit der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos. Am Anfang von Corona habe ich die Zeit hier auf dem Campingplatz ohne Menschen genossen. Es hat sich so angefühlt, als ob man den Herzinfarkt, bei der hochlaufenden Maschine, um zehn Jahre verschiebt (lacht). Es wäre ja normalerweise Saisonbeginn gewesen. Aber irgendwann wurde es absurd, fast ein bisschen spooky, sodass ich mich schon über die Gäste gefreut habe. 

In welchem Umfang solidarisierst du dich mit Flüchtlingen?

Ich bin tatsächlich sehr gefangen in meinem Alltag und habe jetzt aber Berührungspunkte durch die Safar Band, von denen vier Geflüchtete sind. Ich kenne deren Geschichten noch gar nicht so gut, ich habe sie erst in der Corona-Zeit, am Ende des Lockdowns kennengelernt. Ich denke es ist wichtiger denn je, sich zu solidarisieren. Ich war früher viel demonstrieren, jetzt aber gar nicht mehr. Ich schäme mich auch ein bisschen dafür, dass ich nicht aktiver bin, weil wir eine Verantwortung haben. 

 

Du hast einen Wohnwagen hier auf dem Campingplatz stehen – wie bist du dazu gekommen?

Ich habe als Lehrling in einem Bauwagen gewohnt, also immer gerne draußen, naturnah und frei. Als ich mir diesen Wohnwagen gekauft habe, war ich auf der Suche nach einem Stellplatz. Eine Freundin erzählte mir von einer freien Fläche hier auf dem Campingplatz und meinte, ich sollte den Besitzer fragen. Ich bin dann die Bundesstraße entlanggefahren, irgendwann rechts abgebogen und plötzlich offenbarte sich mir das Meer, aber erst richtig wahrgenommen habe ich es, als ich zum Campingplatz hinunterfuhr. Mir kamen die Tränen und da habe ich den Entschluss gefasst und dem Besitzer das auch ganz klar vermittelt: Hier will ich mit meinem Wohnwagen stehen. Das ist jetzt fünf Jahre her. Seit drei Jahren arbeite ich auch hier. Ich freue mich immer auf den Herbst und Winter, dann ist hier Totenstille, das genieße ich sehr.

 

Warum hast du Tattoos und welche Bedeutung haben sie?

Es ist natürlich eine Form der Verzierung meines Körpers. Ich könnte schon wieder losgehen und mich tätowieren lassen. Es ist ein Anfang ohne Ende … die wenigsten Leute haben nur ein Tattoo. Ich erinnere mich an die Lebensphasen, in denen ich mich befunden habe, als ich mich habe tätowieren lassen. Das hat auch damit zu tun, sich besonders zu spüren, was auch dem Thaiboxen nahekommt. Es ist eine extreme Körperwahrnehmung und du wirst immer wieder daran erinnert. Meine tätowierten Körperteile gefallen mir eigentlich besser als der Rest. Ich bin aber auch sehr zufrieden und dankbar mit dem Rest – dass alles so toll funktioniert.

Welche anstehenden Projekte hast du?

Eigentlich habe ich immer ein Fernziel im Kopf – Thailand, mit der Überlegung dort auch wieder zu kämpfen. Aber das fällt erst einmal aus. Konzerte sind kleine Projekte. Normalerweise spielen wir dreißig, vierzig Konzerte im Jahr. Das sind immer kleine Highlights. Für dieses Jahr bin ich noch auf der Suche. Ich versuche jeden Tag besonders zu machen. Ich bade das ganze Jahr durch und wenn ich mir überlege, könnte ich ins Meer gehen?, dann mache ich das auch auf jeden Fall, weil ich mich sonst ärgere, dass ich es nicht gemacht habe. Und so kann ich mir dann sagen, ich habe den Tag heute bestmöglich genutzt. Erst zwanzig Kilometer joggen und danach ins Meer.

 

Was ist deine Lebensphilosophie?

So intensiv wie möglich am Leben teilnehmen. Ich war in meinem Leben schon viel „drüber“, bis an die Grenze der Selbstausbeutung. Es fällt mir schwer, nicht alles mit Vollgas zu machen. Aber es ist das, was mich ausmacht. Ich habe mein Leben mittlerweile so eingerichtet, dass ich meine Ruhepunkte finde, mit meinem Hund Zottel.

 © Jule Schwarz
© Jule Schwarz

 

Wie lange hast du ihn schon?

Er ist jetzt seit fünfeinhalb Jahren bei mir. Er ist mit mir als Welpe hierhergezogen. Seit ich zehn bin, lebe ich mit Hunden. Das war immer schon mein Herzenswunsch. Wenn ich meinen Lifestyle nach meinen Hunden gerichtet habe, dann ging es mir auch gut. Auf dem Land zu leben, viel draußen zu sein.

 

Du hast erwähnt, dass du mit Maschinen arbeitest, mit welchen genau?

Aktuell Radlader und Trecker. Im Prinzip alles an Landmaschinen.

 

Hier in der Umgebung?

Hier auf dem Campingplatz und gegenüber auf dem Gut Grönwohld, das gehört auch meinem Chef. Es ist interessant für mich, da ich ganz viel aus der Landwirtschaft hier anwenden kann. Einen Teil der Maschinen habe ich jetzt unter meine Fittiche genommen. Und auf Baustellen hier arbeite ich auch, das ist schon schweres Zeug. Wenn man von Klischees reden will – ein Männerberuf. Das mache ich seit ich siebzehn bin, als ich meine Ausbildung angefangen habe. Mit zehn hatte ich die Idee, Biobäuerin zu werden. Aus Liebe zu den Tieren. Ich hatte immer Lust mit Tieren zu arbeiten. Nach meiner Ausbildung zur Landwirtin habe ich selber Rinder gehalten und mit einer Kuh angefangen, die ich vom Lehrbetrieb mitgenommen hatte und die ich Pims getauft habe. Inspiriert durch Astrid Lindgrens Kinderbücher, so wie auch der Name meiner Tochter, Lovis. Pims war ein kleines Flaschenkalb, das am Ende zahm war wie ein Hund und mir ganz nah. Sie hat mich viele Jahre begleitet und auch ein paar Kälber gekriegt. Diese Affinität zu Rindern ist geblieben. Ich habe nächtelang in Kuhställen verbracht, weil Kühe eine unfassbare Ruhe ausstrahlen. Neben so einem Wiederkäuer zu liegen ist schon echt fantastisch (lacht). Und deswegen habe ich mir den beschützenden Schädel tätowieren lassen. 

© Tonia Christie

Lebt Pims noch?

Ne, sie ist aber uralt geworden. 20 Jahre glaube ich. Sie hatte, dadurch, dass sie zu früh geboren wurde, einen Lungenschaden, ihre Lunge war nicht vollständig ausgebildet, dafür ist sie aber richtig alt geworden. Ich habe sie dann in die Hände einer Pferdezüchterin gegeben, wo sie auf der Koppel mit den Pferden herumalbern konnte. Am Ende wurde sie eingeschläfert. Ich habe gerne Fleisch gegessen und viele Tiere gehalten, geschlachtet, verarbeitet und gegessen. Die hatten auch alle Namen. Mittlerweile bin ich vegetarisch unterwegs. Für mich war es aber wichtig und von vorneherein klar, seit deren Geburt, dass sie zum Schlachten bestimmt waren. Pims hätte ich niemals essen können.

 

Was bedeutet Freiheit für dich?

Jeden Tag entscheiden zu können, was ich möchte und was ich nicht möchte. Dazu gehört, sich räumlich frei zu bewegen. Zurzeit sind wir ja eingeschränkt, das sind wir nicht gewohnt, was das Verreisen angeht. Als der Lockdown war, gab es diese Berufsverbote – es war verboten zu proben und zu trainieren mit Vollkontakt. Das ist doch auch Freiheit, in mein Gym gehen zu können und die Entscheidungsfreiheit zu haben. Und mich hier in Deutschland so zu bewegen, wie ich als Frau Lust darauf habe. Danke an die Frauen, die für uns erkämpft haben, dass wir wählen gehen dürfen. Das war ja nicht schon immer so, dass wir das dürfen. Freiheit bedeutet auch, mit wenig Geld auszukommen. Ich habe nicht viel, um das ich mich kümmern muss. Würde es hier brennen, wüsste ich ganz genau, was ich mitnehmen müsste – meine Geige und meinen Hund. Das war es dann auch schon und dann würde es irgendwie anders weitergehen. Ich brauche wenig Geld und das verschafft mir ganz viel Zeit und Freiheit, Dinge zu machen, die nicht so viel Geld bringen. Das empfinde ich als Luxus. 

09/2020