Interview mit Tetiana Karpenko aus der Ukraine.

 Tetiana Karpenko hat ihre Heimatstadt Dnipro im Osten der Ukraine verlassen und ist mit ihrem Mann in eine andere Stadt im Westen des Landes gezogen. Beide verbindet eine Leidenschaft für Sibirische Huskys, die sie züchten und europaweit an Familien vermitteln. Ein Gespräch über die Liebe zum Heimatland, ein romantisches Ereignis in schrecklichen Zeiten und warum jeder während des Krieges das tun sollte, was er am besten kann. 

Frau sitzt mit Husky auf einer Treppe
Tetiana Karpenko mit Sibirischem Husky © Tetiana Karpenko

Hallo Tetiana, schön dich kennenzulernen. Wie geht es dir?

Mir geht es ganz gut.

 

Du bist von deiner Heimatstadt Dnipro im Osten der Ukraine in eine andere Stadt gezogen. Warum?

Ja, wir sind vor 4 Wochen von unserem Zuhause in Dnipro weggezogen. Meine Stadt und die Region um Dnipro herum liegen nur 150 – 200 km von der Frontlinie entfernt. Dort war es zu gefährlich zu bleiben. Es gab zwar keine Bombenangriffe in unserem Stadtzentrum, aber wir hörten die Sirenen den ganzen Tag und dachten, es wäre an der Zeit zu gehen und weiterzuziehen. Die russischen Truppen rücken näher in die östliche Stadt der Region Dnipro - an Pawlohrad heran. Zwischen Dnipro und Pawlohrad sind es 90 km, das ist die letzte Grenze. Hätten die Russen diese Grenze überschritten, hätten wir sofort unsere Stadt verlassen müssen und die Artillerie hätte uns in einer Entfernung von 40 – 50 km erreichen können. Gestern traf eine Rakete Pawlohrad, aber nicht Dnipro. Wir hatten tatsächlich Glück, denn als wir dort noch lebten, gab es einen Angriff auf eine alte Bekleidungsfabrik am Stadtrand von Dnipro. Zum Glück arbeitete zu dem Zeitpunkt niemand in der Fabrik, als die Bombe das Gebäude zerstörte. Der Flughafen Dnipro wurde auch von russischen Raketen und Luftangriffen getroffen.

Wir sind mit zwei Autos gereist. Das eine Auto wurde von einem Mann gefahren, darin befanden sich unsere Kleidung, Schuhe und Hundebedarf für unsere Sibirischen Huskys. Die wichtigsten Habseligkeiten wie Dokumente, Medikamente und Lebensmittel waren im zweiten Auto, mit mir, meiner Mutter und meinem Mann, der das Auto fuhr. Zu Hause gibt es noch viele Kleidungsstücke, die wir nicht mitnehmen konnten. Wir hoffen sehr, dass wir eines Tages nach Dnipro zurückkehren können. 

Wo seid ihr jetzt?

Wir sind jetzt in Lwiw, nah an der polnischen Grenze. Wir lesen die ganze Zeit Nachrichten, damit wir wissen, was an der Front passiert und um auf alles vorbereitet zu sein. Wir können nicht warten, bis die russischen Truppen zu uns vordringen. Ich versuche in dieser Situation so gut es geht, meinen Zustand mit Hilfe eines Psychologen und Tabletten zu beruhigen. Es sind keine Antidepressiva, sondern Tabletten, die helfen mein Nervensystem zu beruhigen und den Kopf frei zu bekommen.

 

Muss dein Mann nicht kämpfen?

Nein, er ist in keiner stabilen gesundheitlichen Verfassung. Er kann an die Front gehen, wenn eine vierte Mobilisierungswelle angekündigt wird, wenn es nicht genug Leute im Militär gibt, um für unser Land zu kämpfen und es zu verteidigen, aber sie haben noch nicht einmal die zweite begonnen. Und ich hoffe wirklich, dass die vierte nicht angekündigt wird. Mein Mann gehörte nicht zu der Gruppe von Männern, die im Umgang mit Waffen und im Kampf ausgebildet wurden. Er weiß also nichts darüber. Während des Krieges sollte jeder das tun, was er am besten kann. Zum Beispiel unsere Wirtschaft unterstützen, weil sie zusammenbricht. Einige haben ihre Arbeit verloren, andere nicht. Mein Mann und ich können aber weiter arbeiten und Geld verdienen.

Ihr könnt arbeiten?

Ja, wir arbeiten und haben genug Geld für unsere Bedürfnisse und für die Unterstützung unserer Armee und der Menschen, die in Not sind. Wir beschützen unsere Wirtschaft (lacht).

 

Was machst du beruflich?

Ich arbeite in einer Bank, bin zuständig für die Abwicklungen von elektronischen Transaktionen mit Visa und Mastercard und das Aufdecken von Betrug durch elektronische Transaktionsanalysen.

 

Arbeitet dein Mann auch in diesem Bereich?

Nein, mein Mann ist Programmierer. Er nutzt sein Gehirn (lacht). Wir haben beide seit Beginn der Pandemie im Home Office gearbeitet und arbeiten weiterhin zu Hause, weil unser Unternehmen uns das erlaubt. 

Wo wohnt ihr jetzt in Lwiw?

Wir haben eine Wohnung  gemietet, in der wir mit unseren vier Sibirischen Huskys bleiben können. Die Firma, die die Wohnungen vermietet, ist sehr tierfreundlich. Das Haus ist ein 6-stöckiges Gebäude mit Tiefgarage. Es ist wie ein Hotel, aber mit ganz normalen Mietwohnungen. Es gibt einen Wäscheraum und Reinigungspersonal. Es ist nett hier, aber ziemlich teuer - tausend Euro pro Monat. Aber für uns ist es machbar, und es fallen keine zusätzlichen Gebühren für die Hunde an.

Sind die Hunde mit euch in der Wohnung?

Ja, sind sie - hier schau.

© Tetiana Karpenko

Hast du jemals darüber nachgedacht, die Ukraine zu verlassen?

Nein. Wir haben einen unserer Sibirischen Husky-Welpen an eine deutsche Familie verkauft, und sie haben uns angeboten, in ihrem Haus in Deutschland zu wohnen, weil es leer steht. Das ist ein tolles Angebot, aber es würde bedeuten, dass ich dort alleine mit meiner Mutter ohne meinen Mann leben müsste. Ich habe intensiv darüber nachgedacht, aber es ist für mich unmöglich zu gehen. Es ist relativ sicher und ruhig hier in Lwiw, und das einzige, was uns an den Krieg erinnert, sind die Sirenenalarme, die ein- bis zweimal täglich ausgelöst werden. An manchen Tagen gibt es auch keinen Alarm. Es ist fast normaler Alltag hier, die Geschäfte, Cafés und Einkaufszentren sind geöffnet.

 

 

Junge Frau steht mit vier sibirischen Huskys an der Leine auf einem öffentlichen Platz
Tetiana in Lwiw mit ihren Sibirischen Huskys © Tetiana Karpenko

Lwiw wurde schon öfter angegriffen. Das erste Mal am 24. Februar, als Russland die Invasion begann. Das zweite Mal als US-Präsident Biden Polen besuchte und sagte, dass Putin ein Kriegsverbrecher sei. Achtzig Raketen wurden auf ukrainisches Territorium abgefeuert, viele von ihnen in Richtung Lwiw und die Region um Lwiw. Aber die meisten Raketen wurden von der ukrainischen Luftverteidigung abgeschossen.

 

Als wir hierher fuhren, verbrachten wir elf Stunden im Auto. An diesem Tag trafen fünf russische Marschflugkörper Lwiw. Es gab viele Opfer, da der Bahnhof und Lagereinheiten ins Visier genommen wurden und mehrere Explosionen verursacht wurden. Das war der einzige schwerwiegende Vorfall hier in Lwiw. 

Seid ihr nachts gereist?

Nein, nur tagsüber. In Lwiw gibt es eine Ausgangssperre von 23 Uhr bis 5 Uhr morgens. In Dnipro hatten wir Einschränkungen von 22 Uhr bis 5 Uhr morgens.

Die Situation in den Städten wird besser. Unsere Regierung sagt: „Geht arbeiten, bleibt nicht zu Hause, tut etwas.“ Ich bleibe in Lwiw und versuche gelassen zu sein. Und natürlich helfen mir meine Sibirischen Huskys und der Unterricht mit ihnen in der Hundeschule Harmonic Dog, wo ich Hundepsychophysiologie und Sozialkynologie (Verhaltensformen und Verhaltensauffälligkeiten des Hundes) studiere. 

Wo wurdest du in der Ukraine geboren?

Ich wurde am 25. Januar 1989 in der Stadt Dniprodzerzhhnsk  geboren, in der Nähe von Dnipro. Seit 2014 heißt die Stadt Kamjanske. Es gibt dort viele Fabriken. Vor 10 Jahren bin ich dann nach Dnipro gezogen. 

Wann begann deine Leidenschaft für die Hundezucht mit den Sibirischen Huskys?

Als ich nach meinem Universitätsabschluss nach Dnipro gezogen bin, fand ich einen Job und lebte zwei Jahre allein in einer Einzimmerwohnung, da ich keinen Freund oder eine Beziehung hatte, aber ich wollte unbedingt neue Freunde finden. Ich liebe den Winter und Winteraktivitäten sehr und an meinem Geburtstag im Januar liegt immer viel Schnee. Eines Tages haben meine Kollegen mich eingeladen, mit ihnen nach Lavina zu kommen, einem Skigebiet mit Skicenter, wo man Skifahren und Snowboarden lernen kann. Ich liebe Snowboarden, und habe es als Kind schon geliebt, Snowboardvideos anzuschauen. Also fing ich an, Snowboarden zu lernen. Vier Jahre später traf ich meinen zukünftigen Mann und wir zogen zusammen. Dann ist etwas passiert, und ich wurde ziemlich krank und musste einen Psychologen aufsuchen und eine Therapie beginnen, um mit der ganzen Situation besser umgehen zu können. Die Behandlung war sehr wichtig für mich. Ich hatte ein Problem mit meiner Verdauung. Es waren akute Magenbeschwerden. In der Zeit sind wir in ein Skigebiet namens Bukovel gefahren, um Snowboard und Ski zu fahren. Dieses Skigebiet ist ziemlich bekannt, wie ein kleines Ischgl in den Karpaten. Hier habe ich zum ersten Mal Sibirische Huskys gesehen. Wir hatten die Gelegenheit von ihnen in einem Hundeschlitten gezogen zu werden. Das war so aufregend, und ich spürte innerlich, dass wir seelenverwandt waren und dass ich so einen Hund brauchte. Als wir nach Hause zurückkehrten,  wurde für meinen Mann und mich dieser Wunsch immer stärker. Als ich fünf oder sechs Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Mein Vater und meine Großmutter hatten damals einen Hund, die Rasse hieß Kurzhaar und mein Vater hatte die Idee, den Hund mit noch einem anderen in ein Geschirr vor einen Kinderschlitten zu spannen, damit ich gezogen werden konnte. Ich setzte mich auf den kleinen Schlitten und hielt mich fest und als er den Hunden das Signal gab loszulaufen, sprinteten sie so schnell los, dass ich vom Schlitten fiel und auf dem Boden landete (lacht).

Drei sibirische Huskys mit Frau im Schnee
Tetiana mit ihren Sibirischen Huskys im Schnee © Tetiana Karpenko

Mit unseren vier Sibirischen Huskys nehmen wir an Hundeschlittenrennen teil. Sie bilden ein Team mit einem anderen Husky, der einem Freund gehört. In diesem Winter haben wir sie mit auf eine Schlittenfahrt genommen. Ich liebe es mit den Huskys im Schnee zu sein, sie fühlen sich an wie ein Teil von mir. Sie haben besondere Eigenschaften, viel Energie und einen großartigen Verstand um Entscheidungen zu treffen. Es ist ein Merkmal dieser Rasse. Und ich liebe ihr Temperament, ihren Ausdruck, ihren Charakter, ihre wilde Schönheit und die Ohren, das Fell und ihre Gesichter. Es sieht immer so aus, als würden sie lachen. Wenn man mit vielen Hunden lebt, sieht man, wie sie mit uns und miteinander kommunizieren. Es sind sehr gesellige Tiere, wir sind wie eine große Familie. 

Dein Mann Volodymyr unterstützt dich und besitzt die gleiche Leidenschaft für die Hunde?

Ja, er unterstützt mich, wir besitzen die Hunde zusammen und arbeiten mit ihnen zusammen. Wir lieben es an Hundeausstellungen teilzunehmen und manchmal auch an Hundeschlittenrennen. Und er unterstützt mich, wenn ich meinen Wunsch äußere, mehr über die Hunde zu erfahren, über ihre Genetik, die Kynologie und wenn ich Kurse über Heilkunde und Psychologie machen möchte.

Frau mit Husky auf einer Hundeshow
Teilnahme an einer Hundeshow mit Sibirischem Husky © Tetiana Karpenko

Was gibt dir Hoffnung in diesen schwierigen Zeiten?

Zuerst konnte ich es nicht glauben, dass unsere Armee in der Lage war uns zu verteidigen. Das war der totale Horror, und ich hatte große Angst. Aber als wir anfingen, die Nachrichten zu hören und Informationen von den Experten zu erhalten, begann ich zu verstehen, was vor sich ging. Was es bedeutet, dass die russische Armee die zweitstärkste Streitmacht der Welt ist. Ich verstehe jetzt, dass unser Präsident und unsere Regierung genau wissen, was sie tun. Sie stehen für die Menschen in der Ukraine und für die Zukunft unseres Landes und nicht für ihre persönlichen Interessen. Wir kennen Präsident Selenskyj seit zwanzig Jahren, als er noch ein Komiker und ein beliebter Schauspieler war, und wir vertrauen ihm. Er gibt uns Hoffnung. Jeden Tag hören wir ein Interview mit Oleksiy Arestovych, einem politischen und militärischen Kolumnisten, der über den Krieg und die Nachrichten berichtet. Er ist ein Experte auf dem Gebiet und der Berater des Präsidenten. So erhalten wir wichtige Informationen und es ist einfacher für uns, die Situation zu verstehen. Hoffnung gibt mir, dass wir zusammenhalten und in unserem Land bleiben können und der Glaube an unsere militärische Verteidigung und das diplomatische Geschick unseres Präsidenten. 

Und die Beziehung zu meinem Partner Volodymyr gibt mir Hoffnung. Wir haben am 15. März während des Kriegs offiziell geheiratet. Vielleicht hat er verstanden, dass wir nicht unsterblich sind, also haben wir beschlossen, endlich auch auf dem Papier zusammen zu sein. Seit wir verheiratet sind, ist es, selbst in dieser schrecklichen Situation, sehr romantisch. Das Ereignis erlaubte uns den Krieg zu vergessen. Wir erzählten einigen Freunden, dass wir heiraten würden und sie sagten – wow – wir werden kommen. Wir hätten nicht erwartet, dass sie unter solch schwierigen Bedingungen kommen würden. Dafür sind wir sehr dankbar.

Paar sitz mit zwei Hunden auf einem Sofa und guckt in die Kamera
Wolodymyr und Tetiana Karpenko mit ihren Sibirischen Huskys © Tetiana Karpenko

Wo habt ihr geheiratet?

Es gab kein weißes Kleid oder eine feierliche Zeremonie mit vielen Gästen und Brautjungfern. Es war einfach eine standesamtliche Trauung, wo wir die Papiere unterschrieben haben.

 

Und die Ringe?

Wir hatten keine Ringe. Wir mussten warten, bis die Läden wieder geöffnet waren und dann konnten wir die Ringe kaufen (lacht). Mein Mann sagt, dass die Ehe unser Leben verändert hat und fragt sich, warum wir nicht schon früher geheiratet haben? Wir haben so viele Pläne und warten darauf, dass der Krieg vorbei ist, damit wir unser Leben weiterleben können. 

Was wünscht du dir für die Zukunft?

Zuallererst möchte ich, dass Putin stirbt. Hast du von der Geschichte mit dem russischen Kriegsschiffs gehört? Als die ukrainischen Soldaten zu den Russen auf dem Kriegsschiff sagten – go fuck yourself? Das ist es, was man zu Putin sagen sollte. Und wir denken darüber nach, in eine andere Stadt zu ziehen. Weil wir nicht wollen, dass eine zweite Eskalation beginnt und es so kommen könnte wie in Charkiw. Wir haben Pläne mit unseren Hunden, ein Leben mit Kindern, wir wollen im Grunde einfach ein friedliches Leben führen. Somit wäre es besser, sich noch weiter weg von der Frontlinie in Richtung Westen niederzulassen. Wenn unsere Männer die Grenze überqueren dürfen, könnten wir das Land verlassen und vielleicht sogar für ein paar Monate in Deutschland leben. Die Besitzer unserer Sibirischen Husky-Welpen leben ja in verschiedenen Städten in Deutschland.

Woher kommen deine Eltern?

Mein Vater ist Ukrainer, meine Mutter wurde in Kasachstan geboren (ihre Mutter ist Russin und ihr Vater ist Kasache), also bin ich halb Russin. Meine Mutter kann Ukrainisch lesen und sie versteht alles, aber es fällt ihr schwer die Sprache zu sprechen.

 

Hast du von deiner Mutter Russisch gelernt?

Die Region um Dnipro liegt nah an Russland, deshalb ist der russische Einfluss sehr groß. Die Mehrheit der Menschen dort spricht Russisch, auch in den Städten in der südöstlichen Region von Charkiw und Saporischschja. Es ist also nicht einfach für uns, jetzt schnell wieder Ukrainisch zu sprechen, weil 95 Prozent der Menschen in dieser Region Russisch sprechen. Aber auf der anderen Seite ist es paradox, weil in den Dörfern in diesen Regionen die Menschen Ukrainisch sprechen. Wir sind Ukrainer, wir halten zusammen und sprechen die Sprache, die in unserer Familie gesprochen wird.